Dieser Beitrag wurde am 30. Mai 2025 bei Campusrauschen veröffentlicht. Paris wird immer grüner und leiser – aber nicht jedem gefällt das. Die Stadt investiert Millionen in die Errichtung von Parks, Grünanlagen, Radwegen und Fußgängerzonen – für das Stadtklima, saubere Luft und weniger Lärm und Verschmutzung. Den Einwohnern von Montmartre gefällt das gar nicht. Sie befürchten, dass mehr Fußgängerzonen noch mehr Touristen anlocken und es für die alternde Bevölkerung im Viertel um die berühmte Basilika Sacre Cœur noch schwerer wird, auf den steilen, kopfsteingepflasterten Straßen ohne Autos zu ihren Wohnungen zu kommen. Nach Schema F wird hier dasselbe durchgezogen wie in anderen Vierteln, beklagen sie mit Bannern und einer Unterschriftenkampagne, ohne Einbeziehung der Anwohner. Die Beteiligung der Bevölkerung in der Stadt- und Verkehrsplanung ist ein schwieriges Unterfangen, wie kürzlich auch am Gendarmenmarkt in Berlin oder bei einem Radweg in Fulda wieder klar wurde. Partizipation in der Forschung In der Forschung ist das nicht anders. Forschungsfragen zu stellen, die reale Probleme angehen, und Erfahrungen und Meinungen aus der Praxis in Methoden und Ziele einzubeziehen, ist eine Herausforderung. Dabei ist Beteiligung enorm wichtig, um drängende Probleme anzugehen, vom Klimawandel bis zum demografischen Wandel. Formate der partizipativen Forschung gibt es viele, von Citizen Science bis Open Innovation. Der neue „Leitfaden für Partizipation in der Forschung“ stellt diese Formate nun kurz und einfach vor und gibt Beispiele, wie sie angewendet werden können. Das hilft Forschenden aus anderen Disziplinen zu verstehen, wie gute partizipative Forschung funktioniert. Unter Beteiligung von acht Unis, Forschungsinstituten und gemeinnützigen Vereinen sowie dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) soll der Leitfaden vor allem Orientierung schaffen, erklärt Philipp Schrögel, Gastwissenschaftler an der TU Chemnitz, der die Konzeption und Erstellung leitete. Reallabore – der Newcomer in der partizipativen Forschung Ein junges Format im Bund der partizipativen Forschung ist die Reallaborforschung. Hier findet die Entwicklung und das Testen von Innovationen unter Praxisbedingungen statt, zusammen mit Akteuren aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Das können Technologien, Dienstleistungen oder auch Instrumente der Politik wie Subventionen oder Regulierungen sein. Das Format ist beliebt. Das SAMSax-Reallabor an der TU Bergakademie Freiberg zum Beispiel arbeitet mit Industriepartnern an der Wiederverwertung von Plastik-Reststoffen im 3D-Druck. In Bayern, Niedersachsen und Brandenburg werden landwirtschaftliche Praktiken entwickelt, um Insekten und anderen wichtigen Lebewesen bessere Lebensbedingungen zu bieten und so für mehr Biodiversität auf Äckern und Wiesen zu sorgen. In sechs EU-Ländern, von Spanien bis Litauen, wird experimentiert, wie die urbane Landwirtschaft der Zukunft aussehen kann. Auch außerhalb der Wissenschaft gibt es Reallabore, zum Beispiel das Reallabor Energie der Deutschen Bahn oder das Reallabor Radbahn in Berlin. Im weitesten Sinne sollen Forschung, Praxis, Politik und Gesellschaft auf Augenhöhe zusammenarbeiten – etwas, das in der Wissenschaft selten stattfindet –, um gemeinsam Innovationen zu entwickeln und unter realen Bedingungen zu testen. Ziel ist auch, Forschung durch Input aus der Praxis zu lenken, indem Fragestellungen und Probleme eingebracht werden, die gemeinsam angegangen werden. Verstetigung notwendig Reallabore sind im Idealfall dauerhafte Forschungsinfrastrukturen, die über Jahrzehnte an bestimmten gesellschaftlich relevanten Themen forschen und nicht nur für einzelne Projekte eingerichtet werden. Im Quartier Zukunft in Karlsruhe zum Beispiel entwickeln Forschende seit 2012 mit Anwohnern nachhaltige Wohnformen in Städten. Die Utopiastadt in Wuppertal beschäftigt sich mit nachhaltigem städtischem Verkehr und der Neuentwicklung von Stadtraum. Am Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) bei Berlin gibt es ab nächstes Jahr das Innovationszentrum für Agrarsystemtransformation (IAT). Am IAT sollen zusammen mit Partnern an den Unis Gießen und Kassel sowie der Hochschule Geisenheim University fünf dauerhaft finanzierte Reallabore in Brandenburg und Hessen aufgebaut werden, die sich Themen wie Weinbau, Tierhaltung oder Ackerbau widmen. Kanada, eines der Vorreiterländer in der Entwicklung von Reallaboren, unterhält seit 2018 ein Netzwerk von 14 Reallaboren im Agrarsektor. Solche festen Institutionen, wie sie es in anderen Forschungsbereichen gibt, gibt es in der Reallaborforschung aber erst selten, kritisiert Markus Egermann, Leiter des Forschungsbereichs Transformative Kapazitäten am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) in Dresden. Viel findet derzeit noch auf Projektebene statt. Dabei ist stetige Finanzierung essenziell, um etwa Akteursnetzwerke, die die Reallaborforschung erst ermöglichen, aufrechtzuerhalten und so projektübergreifend langfristige Ziele zu verfolgen. Auch die meisten Reallaborprojekte des IÖR sind nicht dauerhaft angelegt. So war Dresden von 2015 bis 2022 eine von acht Zukunftsstädten, in denen verschiedene von der Bevölkerung vorgeschlagene Projekte zur nachhaltigen Stadt- und Regionalentwicklung durchgeführt wurden. Eine Verfestigung des Formats geht trotzdem voran. Vergangenen November wurde ein Entwurf für ein Reallaboregesetz auf den Weg gebracht, das einen rechtlichen Rahmen für die Arbeit in Reallaboren geben soll. Vergangenes Jahr fand die zweite Auflage einer Reallaborkonferenz statt, im Dresdner Hygiene-Museum, mitorganisiert vom IÖR, die Forschende und Praktiker zusammenbrachte, um Ideen zu entwickeln und auszutauschen. Im deutschsprachigen Raum ist die Reallaborforschung im Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit organisiert. International ist das European Network of Living Labs (ENoLL) eine Dachorganisation. Partizipative Methoden praktisch erlernen Der Leitfaden für Partizipation in der Forschung spielt auch für Egermann eine wichtige Rolle für Nachwuchsforschende, weil er Orientierung bietet und wichtige Aspekte der Partizipation beleuchtet, etwa wie Transfer funktioniert, was bei der Evaluation beachtet werden muss oder wie Wertschätzung zum Ausdruck gebracht werden kann. „Das ist unglaublich wertvoll“, sagt der IÖR-Forscher, „gerade für Student:innen und junge Wissenschaftler:innen oder auch Kolleg:innen, die bisher wenig eigene Erfahrungen dazu haben und ja nicht in die gleichen Fallen tappen müssen wie viele Forschende vor ihnen.“ Darum kommen partizipative Methoden auch in der Lehre immer mehr vor. Im Masterstudiengang Raumentwicklung und Naturressourcenmanagement an der TU Dresden vermitteln Forschende des IÖR partizipative und transdisziplinäre Forschungsansätze unter dem Titel „Gutes Leben in der Stadt?“. Studierende sind dabei in aktuelle Projekte des IÖR eingebunden.
Dieses Semester arbeiten Studierende im Rahmen des Leibniz-Labs „Umbrüche und Transformationen“ an einem „serious game“, einem Gesellschaftsspiel. Damit sollen Transformationsprozesse für junge Erwachsene und Familien besser verstanden werden, also tiefgreifende Veränderungsprozesse zu nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweisen. Zum Beispiel wird untersucht, wie ein Wirtschaftssystem aussehen muss, das die Bedürfnisse erfüllt, aber unabhängig von ständigem Wachstum funktioniert und dadurch den Planeten ruiniert, erklärt Egermann. „Niemand weiß, wie das gehen soll, daher müssen wir viel ausprobieren und dabei gemeinsam lernen, wie wir das zum Beispiel im Projekt SWITCH tun.“ Comments are closed.
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